Ski-Expedition auf den Muztagh Ata, 1999

Ein Reisebericht von Johannes Müller

Auch das noch! Sechs Tage vor Expeditionsbeginn liege ich krank im Bett. Doch ich versuche, optimistisch zu bleiben, und sage mir "besser jetzt als später". So fühle ich mich noch etwas angeschlagen, als ich am Nachmittag des 1. August 1999 im Frankfurter Flughafen die weitere Mannschaft mit unserem Expeditionsleiter Albert treffe. Unsere recht gemischte Gruppe umfaßt 14 Bergsteiger aus Deutschland, Österreich und Holland im Alter zwischen 33 und 59 Jahren. Unser gemeinsames Ziel ist der 7546 m hohe Gipfel des Muztagh Ata im äußersten Westen Chinas. Einschließlich mir wollen acht Mann mit Ski hinaufsteigen, ein weiterer hat Schneeschuhe im Gepäck und die restlichen fünf planen eine reine "Zu-Fuß-Begehung".

Schon am Frankfurter Check-in beginnen orientalische Zustände. Eine aufgebrachte Menschenmenge belagert den Schalter der PIA, was offiziell "Pakistan International Airways", besser wohl "Please inform Allah" bedeutet. Anderthalb Stunden später wird unser hoffnungslos überbuchter Flug zum Einsteigen aufgerufen, obwohl wir immer noch auf unser Einchecken warten. Doch plötzlich, Allah muß ein Einsehen mit uns gehabt haben, überreicht man uns mit unseren Bordkarten eine Unmenge von Gepäck-Tags, die wir schleunigst an unseren zahlreichen Seesäcken befestigen. Diese ziehen sogleich wie durch ein Wunder ungewogen auf dem Förderband von dannen. Am nächsten Morgen müssen wir im pakistanischen Lahore nicht nur das Flugzeug wechseln, sondern auch zollbedingt mit dem gesamten Gepäck dieselbe Check-in-Prozedur wieder über uns ergehen lassen. Gut, daß hier wieder nicht gewogen wird und der Flug nach Islamabad nur noch ein Katzensprung ist.

"Unsere Hauptstadt Islamabad hat eine gute Lage", sagen die Pakistanis ironisch, "denn sie liegt nicht weit von Pakistan entfernt." Damit meinen sie, daß die am Reißbrett geplante und seit den 60er Jahren im Bau befindliche Stadt nur wenig landestypisch wirkt. Wir besichtigen dort die moderne und monumentale Faisal-Moschee, die 100.000 Gläubige aufnehmen kann und eine der größten Moscheen der Welt ist. Wesentlich mehr Flair begegnet uns jedoch in der alten, gewachsenen Nachbarstadt Rawalpindi, wo wir uns in den labyrintischen Bazar-Gassen schier verlaufen. Voll begeistert bin ich von der Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Einheimischen, mit denen ich mich auf Englisch gut verständigen kann.

Tags darauf beginnt unsere lange Busreise entlang des "Karakorum Highways" nach Norden. Knappe 1000 km werden wir in den nächsten fünf Tagen bis zum Ausgangspunkt unserer Tour zurücklegen. Atemberaubende Tiefblicke auf den mächtigen Indus wechseln sich ab mit faszinierenden Bergblicken. Am zweiten Reisetag soll der "deutsche Schicksalsberg" Nanga Parbat vor unseren Kameralinsen erscheinen, doch dicke Wolken bescheren uns Fotografen keine Freude. Dafür erhalten wir am Zusammenfluß von Indus und Gilgit-River eine kurze geographische Lektion: Hier befindet sich der Grenzpunkt der drei mächtigen Gebirgszüge Himalaya, Hindukusch und Karakorum. Im lieblichen Karimabad, dem Hauptort der Hunza-Region, haben wir freie Sicht auf die 7000er Ultar, Spantik, Diran und Rakaposhi. Vormittags erkunden wir die alten Königsfestungen Altit und Baltit, deren Baustil sogar tibetischen Einfluß erahnen läßt. Am darauffolgenden Tag, es ist der vierte Reisetag ab Islamabad, erreichen wir den 4800 m hohen Khunjerab-Paß und damit die Grenze zwischen Pakistan und China. Hier werden unsere Uhren drei Stunden vor gestellt. Die ab jetzt offiziell geltende Peking-Zeit hat aber eher theoretischen Charakter, denn nun zeigt die Uhr etwa 14:30, wenn in dieser Gegend die Sonne am höchsten steht.

Nach einer Nacht im völlig heruntergekommenen Pamir-Hotel in Tashkurgan setzen wir am nächsten Morgen bei schönstem Wetter unsere Reise fort. Nach eineinhalb Stunden Fahrzeit steht unser Ziel gut sichtbar vor uns. Vierzehn erwartungsvolle Augenpaare blicken gebannt auf den Muztagh Ata, was wörtlich übersetzt "Vater der Eisberge" bedeutet. Südlich des Karakul-Sees, wo wir zwei original kirgisische Jurten beziehen, erstreckt sich die breite Flanke des Kongur, mit 7719 m höchster Gipfel in dieser Gegend. Auf der anderen Seite des Sees erhebt sich der Muztagh Ata, der von dieser Seite betrachtet ein wuchtiger und stark vergletscherter Berg ist, uns jedoch eine nur mäßig geneigte und durchaus skigeeignete Westflanke präsentiert.

Am nächsten Tag fahren wir eine Viertelstunde zurück zur Kirgisensiedlung Subash, wo unser Gepäck von den beiden Fahrzeugen auf etwa zwanzig Kamele umgeladen wird. Ganz unbeschwert bringen wir den knapp vierstündigen Aufstieg zum 4500 m hoch gelegenen Basislager hinter uns. Wir beziehen unsere Basislagerzelte und lassen uns gleich von dem ausschließlich unserer Gruppe zugewiesenen Koch verwöhnen. Tags darauf wird unsere gesamte Ausrüstung gesichtet und sortiert. Ab jetzt wollen wir im "Schaukelprinzip" möglichst oft auf- und absteigen, um uns damit an die dünne Höhenluft anzupassen. Konkret bedeutet das, tagsüber hoch zu steigen, um zum Beispiel ein Hochlager einzurichten, und die anschließende Nacht auf geringerer Höhe zu verbringen.


Abb. 1: Routen- und Besteigungsskizze

Zunächst sind wir zehn Tage beschäftigt, zwei Hochlager auf 5450 m und 6150 m zu errichten. Vom Basislager zum Lager 1 zieht eine lange Schuttrippe nach oben, eine technisch leichte Wanderung. Erst oberhalb des Lagers 1 befindet sich weites und skigeeignetes Gletschergelände. Leider gibt sich das Wetter unbeständig wie im April: Aus schönem Wetter kann in Minutenschnelle ein Schnee- und Graupelschauer werden, aber auch dichte Wolken verwandeln sich genau so rasant in blauen Himmel.

Nachdem das Lager 2 aufgebaut ist, befinde ich mich mit den anderen sieben Skibergsteigern im Lager 1. Wegen Wetterverschlechterung steigen sechs von ihnen ins Basislager ab. Nur Thomas scheint die gleichen Gedanken wie ich zu haben: Uns zieht es genau in die entgegengesetzte Richtung, weshalb wir hier im Lager 1 auf Wetterbesserung warten wollen. Schon Tags darauf sind wir die Glücklichen und können unter blauem Himmel aufsteigen, stets per Funkgerät mit der übrigen Gruppe verbunden. Am frühen Nachmittag erreichen wir bei strahlendem Sonnenschein das Lager 2, wo wir uns beide luxuriös in zwei Zelten breitmachen können. Trotz der beachtlichen Höhe herrscht eine unvorstellbare Hitze, da sich kein Lüftchen regt und die Sonne schonungslos herabsticht. In der Nacht schneit es leider nicht gerade wenig, so daß am nächsten Morgen jede Menge Spurarbeit auf uns wartet. Wir gehen zum Lager 3 auf 6700 m, wo wir ein Zelt aufbauen sowie Kochutensilien und Lebensmittel deponieren. Während im Basislager unter einem dicken Wolkenteppich trübstes Wetter herrscht, dürfen wir hier oben in der Sonne schwitzen. Nach einer weiteren Nacht auf Lager 2 steigen wir abermals über weite Gletscherfelder auf.

Wir haben eine überraschend angenehme Nacht im Lager 3 hinter uns und wachen am Samstag, den 21. August, um sechs Uhr früh auf. Die Temperatur mag draußen unter -25°C liegen, sämtliche Zeltinnenwände sind weiß verreift. Thomas und ich schmelzen, so gut es geht, Schnee, um unseren Gipfeltag mit einem heißen Tee beginnen zu können. Gegen acht Uhr ziehen wir los. Weit und breit ist außer uns niemand zu sehen - heute gehört der Muztagh Ata nur uns beiden. Da es abermals in der Nacht kräftig geschneit hat, bleibt es schon wieder uns beiden überlassen, die Spur zum Gipfel anzulegen. Über uns ist ein klarer, blauer Himmel, unter uns erstreckt sich ein endloses Wolkenmeer. In der Ferne sehen wir die verschneiten Gipfel des Pamir-Gebirges. Ich versuche, den Pik Lenin zu lokalisieren, den ich 1993 bestiegen habe. Schritt für Schritt kommen wir höher. Um nicht völlig außer Atem zu geraten, zähle ich meine Atemzüge ab. Manchmal muß ich achtmal tief durchschnaufen, bevor ich das nächste Bein vorsetze. Der Luftdruck beträgt hier nur ein Drittel von demjenigen auf Meereshöhe. Wie wir vom Karakul-See schon beobachtet haben, wird der Muztagh Ata nach oben hin immer flacher. So ist während des gesamten Aufstiegs kein Ziel und kein Gipfel in Sicht, nur das Ende des Hanges. Dort angekommen, fällt unser Blick auf einen noch flacheren Hang. Leider ziehen im Tagesverlauf dichte Wolken auf, bis wir schließlich ganz und gar eingenebelt sind und leichter Schneefall einsetzt. Da es fast windstill ist und uns somit unsere Aufstiegsspur als Wegweiser zur Abfahrt erhalten bleibt, entschließen wir uns trotz des schlecht gewordenen Wetters weiterzugehen. Endlich, der Hang ist schon flach wie ein Fußballplatz, erreichen wir einen kleinen Schutthügel, hinter dem es für uns schemenhaft erkennbar in die Tiefe geht. Wir haben unser Ziel erreicht und befinden uns auf dem höchsten Punkt - genau 7546 m über NN. Wir freuen uns wie die Weltmeister, sind mächtig stolz auf unsere Leistung und können unser Glück kaum fassen. Leider läßt die Gipfelaussicht stark zu wünschen übrig. Doch die Wolkenschicht ist nach oben hin recht dünn, so daß uns die Sonneneinstrahlung gut erwärmt. Ohne Wind ist es bei einer Temperatur von schätzungsweise -5° C angenehm mild. (Ungelogen, den Tegernseer Buchstein hatte ich im Winter schon viel kälter und ungemütlicher erlebt.) Gerne hätten wir unseren Kameraden per Funkgerät von unserem Erfolg berichtet, doch aufgrund der Gipfeltopographie kommt keine Verbindung zustande. Wir bleiben eine Dreiviertelstunde, stets in der Hoffnung, es möge einmal aufreißen und den ersehnten Blick zum K2 freigeben. Aber leider wird nichts daraus. Was wir mühevoll in sieben Stunden aufgestiegen sind, können wir recht zügig in nur einer halben Stunde wieder nach unten gleiten.

Nach einer längeren Pause räumen wir das Lager 3 und setzen unsere Abfahrt fort. Kurz unterhalb des Lagers begegnen uns Albert, Klaus, Horst, Karlheinz und Reinhard, die auch auf Skiern unterwegs sind. Wir unterhalten uns kurz und erfahren, daß sämtliche "Fußgänger" wegen des vielen Neuschnees nur ein Stück über das Lager 1 gekommen sind. Der fehlende Skifahrer Paul ist wegen Höhenproblemen im Lager 2 geblieben. Erwartungsgemäß treffen wir ihn dort, wo wir nun zu dritt die Nacht verbringen. Gerade als wir am nächsten Morgen abfahren wollen, kommt Reinhard von oben zu uns. Er hat die Nacht über mit schlimmen Verdauungsproblemen kämpfen müssen und fühlt sich nun für einen Gipfelversuch zu schwach. Zu viert fahren wir vom noch sonnigen Lager 2 in ein völlig undurchsichtiges Wolkenmeer und tasten uns mit manchmal nur fünf Metern Sichtweite an Spalten und Abgründen vorbei ins Lager 1, wo wir nur eine kurze Pause einlegen. Wir erreichen das Basislager gerade rechtzeitig zum verspäteten Mittagessen.

Zwei Tage nach Thomas und mir erreicht die andere Skifahrergruppe bestehend aus Albert, Klaus, Horst und Karlheinz ebenfalls den höchsten Punkt. Das Wetter hat sich mittlerweile deutlich verschlechtert, so daß wir sehr froh sind, als letztendlich alle Bergsteiger wieder gesund und munter im Basislager versammelt sind. Obwohl sich sämtliche "Fußgänger" zwischenzeitlich mit Schneeschuhen eingedeckt haben, kommt bei ihnen nach mehreren erfolglosen Aufstiegsversuchen keine Gipfelmotivation mehr auf. So beschließen wir einstimmig, die Expedition zwei Tage früher als geplant zu beenden und die gewonnene Zeit für einen Besuch der etwa 200 km entfernten Stadt Kashgar zu nutzen.


Abb. 2: Höhe-Zeit-Diagramm

Kashgar war früher eine wichtige Oase an der legendären Seidenstraße, die von Xi'an, der früheren Hauptstadt Chinas, bis ans Mittelmeer reichte. Die Stadt wird von Uiguren, Kirgisen, Tadschiken sowie einer Minderheit Chinesen bewohnt und ist stark islamisch geprägt. Die Idkah-Moschee, welche die größte Moschee Chinas ist, und das prunkvolle Mausoleum von Akab Hodscha sind nur zwei Beispiele der zahlreichen Sehenswürdigkeiten. In den engen Gassen der Altstadt, wo das Leben der Einheimischen sehr traditionell verläuft, scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Oft werde ich von einer Schar Kinder verfolgt, die unbedingt fotografiert werden wollen. Ich werde Zeuge des großen Sonntagsmarktes, welcher der größte Wochenmarkt in ganz Zentralasien ist. Schon frühmorgens sind wahre Menschenmassen auf den Beinen, damit landwirtschaftliche Erzeugnisse, Fleisch, Kleidung, Haushaltsgegenstände, Autoersatzteile, Baumaterialien und Möbel den Besitzer wechseln. Hochinteressant ist der Handelsplatz mit Rindern, Schafen, Ziegen und Pferden. Letztere werden bei Kaufinteresse zuerst einmal probegeritten, was bei dem herrschenden Gedränge nicht gerade ungefährlich erscheint. Am meisten faszinieren mich die alten uigurischen Männer mit ihren langen Bärten und charakteristischen Kopfbedeckungen.

Voller Eindrücke beginnen wir frühmorgens am 30. August in Kashgar unsere Rückreise. Vier Tage lang geht es ein weiteres Mal über den "Karakorum Highway" mit Übernachtungen in Tashkurgan, Karimabad und Besham zurück nach Rawalpindi. Ich freue mich auf den Khunjerab-Paß, auf die freundlichen Pakistanis, auf das Ende der langen Busfahrt, auf das Buffet im luxuriösen "Pearl Continental Hotel" und schließlich auch aufs Nachhausekommen. Völlig überraschend machen wir kurz vor dem morgendlichen Abflug noch einen Abstecher in ein Fotostudio, wo für einen pakistanischen Zeitungsartikel ein Bild von uns sechs Gipfelstürmern aufgenommen wird.

Am 3. September 1999 landen wir spätabends am Frankfurter Flughafen, wo ein Teil unserer Gruppe mit Sekt empfangen wird. Ich muß mich jedoch noch bis zum nächsten Vormittag gedulden, bis ich zu Hause die erste heimische Weißwurst genießen kann. Und der Nachtzug von Frankfurt nach München? Der ist genau so überfüllt, wie ich es bei früheren Reisen in Pakistan und China erlebt habe − für orientalische Verhältnisse braucht man eigentlich gar nicht so weit wegzufahren.