Ein Reisebericht von Johannes Müller
29. März 1996: Flughafen München
"Willst' nach Mexiko?" lautete die wiederholte Frage am Münchner Flughafen. Ständig wurde ich wegen meines grünen Seesacks mit dem fehlenden Teilnehmer einer Pauschalreise verwechselt. Der Kontinent war zwar im weitesten Sinne korrekt, doch nicht nach Mexiko, sondern nach Chile sollte es gehen, und auch nicht per Reisebüro, sondern ungebucht und individuell. Martin (Sachsen-Anhalt), Georg (Südtirol) und ich (good old Bavaria) bildeten das multikulturelle Team, welches während der kommenden fünf Wochen einige Anden-Gipfel erklimmen wollte. Da wir weder Führer noch Karten besorgen konnten, waren uns sämtliche geplanten Berge bis auf deren Namen weitgehend unbekannt. Die einzigen brauchbaren Informationen bezogen wir aus den Ausschreibungen der einschlägigen Reiseveranstalter.
Insgesamt saßen wir an die 15 Stunden im vollbesetzten Flugzeug, als wir an der schroffen Südwand des Aconcagua, Amerikas höchsten Berges, vorbeiflogen. Bereits wenige Minuten später landeten wir wohlbehalten in der chilenischen Hauptstadt Santiago. Nach ausgiebiger Stadtbesichtigung machten wir per Bus einen großen Sprung in den äußersten Norden des Landes. Gute 2100 Kilometer weit ging die Reise über Antofagasta nach Arica. Ein klappriger Vorortbus brachte uns ins nahegelegene Lluta-Tal, wo wir die Schwierigkeiten des "autofreien Bergsteigens" erleben konnten. Gute vier Stunden mußten wir wegen des spärlichen Verkehrs auf eine Weiterfahrgelegenheit warten. Schließlich nahmen uns Straßenarbeiter mit, die alle halbe Kilometer eine Markierung auf die frisch geteerte Straße pinselten - gut Ding will eben Weile haben. Im 3550 m hohen Putre, der höchsten chilenischen Provinzhauptstadt, spielte der Zufall für uns. Bereits zwei Tage später brachte uns der Hüttenwirt der Guallatire-Hütte zu seiner 4260 m hoch gelegenen Unterkunft und damit zu unserem Ziel. Die beiden folgenden Tage nutzten wir zur Akklimatisation und für einen Ausflug zum nahegelegenen Salar de Surire, einem teils ausgetrockneten Salzsee mit immensem, typisch südamerikanischem Tierreichtum. Wir konnten viele Llamas, Alpacas, Vicuñas, Guanacos, Ñandus, Flamingos und Vizcachas beobachten.
06./07. April: Guallatire, 6061 m
Den Guallatire könnte man sogar im Rahmen einer Tagestour besteigen, sofern ein Fahrzeug am Bergfuß wartet. Wir wählten als Sparlösung zwar den motorisierten Transport zum 5100 m hohen Ausgangspunkt, wollten den Rückweg jedoch per Pedes bewältigen. Leider stellte sich im Laufe der eindreiviertel-stündigen Fahrt heraus, daß der Hüttenwirt diese Strecke zum ersten Mal fuhr und deren Länge grob unterschätzte. Erst kurz vor sieben begannen wir viel zu spät loszugehen. Nach gerade einer Woche waren wir natürlich nicht besonders akklimatisiert - dementsprechend zäh entwickelte sich unser Aufstieg über die unvergletscherte Nordflanke. Zusammen mit Georg konnte ich um halb eins vom Gipfel den rauchenden und schwefelig riechenden Schlund bewundern, doch immer schwärzer werdende Wolken ermahnten uns zum sofortigen Rückzug. Martin, der etwas zurückgeblieben war, begegneten wir beim Abstieg. Kurz darauf donnerte das Gewitter los - das Ende des meteorologischen Spektakels warteten wir sicherheitshalber im Biwaksack ab. Unsere vorsorglich am Ausgangspunkt deponierte Zeltausrüstung sollte uns noch gute Dienste leisten, denn erst einen Tag später trudelten wir wieder in der Guallatire-Hütte ein.
Per Autostop ging es von Guallatire in den Lauca-Nationalpark. Nicht nur die vielen Tiere des südamerikanischen Hochlandes, sondern auch die spektakuläre Landschaft begeisterte uns. Ins Blickfeld rückten immer deutlicher die Payachatas, das sind die vergletscherten Zwillings-Vulkane Parinacota und Pomerape. Plötzlich war der Blick frei auf den Lago Chungara (gesprochen Tschungará), dem auf 4550 m wohl höchstgelegenen See der Welt. Im Hintergrund lugte gar Boliviens höchster Berg hervor, der 6542 m hohe Sajama (gesprochen "Sacháma"). Wir quartierten uns in einer Nationalpark-Hütte ein, genossen die faszinierende Abendstimmung und ließen uns nicht von der von LKWs häufig frequentierten Hauptstraße, die direkt am Seeufer vorbeiführt, aus der Ruhe bringen.
09./10. April: Parinacota, 6348 m
Den mächtigen Parinacota wollten wir vom Chungara-See aus angehen. Martin fühlte sich unwohl und beschloß, nicht mitzugehen. Der Hüttenwirt fuhr Georg und mich noch zehn Kilometer auf holpriger Piste näher an den Berg, dann stiegen wir schwer bepackt über weiche Vulkanasche und unangenehme Lavabrocken zur Schneegrenze auf etwa 5300 m, wo wir unser Zeltlager errichteten. Die abendliche Aussicht hinunter aufs Altiplano blieb mir in bester Erinnerung. So schön dieser Berg von weitem anzusehen war, so langweilig gestaltete sich der Aufstieg: Es ging 1000 Höhenmeter gleichmäßig stetig und ziemlich genau südseitig bergauf. Das bedeutete langwierige Spurarbeit im knietiefen Schnee. Nach siebenstündiger Plagerei konnten wir in den immensen Krater des Parinacota blicken. Vor uns tat sich ein Loch mit etwa einem Kilometer Durchmesser auf, die fast senkrechten Wände gingen rundherum gut 300 m in die Tiefe. In nur einer Stunde rutschen wir hinab zum Zelt, das wir angesichts der immer dunkler werdenden Wolken rasch abbauten. Die letzten Kilometer auf der Straße zurück zur Hütte bestätigten uns, daß Bergwandern manchmal zu anstrengender Arbeit entartet.
Da Georg nicht so viel Zeit hatte, verabschiedete er sich und nutzte seine letzte Woche für touristisches Sightseeing in niedrigeren Gefilden. Zu zweit reisten Martin und ich per Autostop weiter auf die bolivianische Seite. Versehentlich fuhren wir viel zu weit nach Curahuara, wo uns schlagartig einige Unterschiede zwischen chilenischem und bolivianischem Lebensstandard auffielen.
13./14. April: Pomerape, 6222 m
Einen Tag verspätet erreichten wir das Dorf Sajama mit wunderschöner Aussicht auf den gleichnamigen Berg und die beiden Payachatas. Komfortabel wurde unser Gepäck von zwei Mulis und deren Treiber ins 5100 m hohe Hochlager gebracht. Frühmorgens brachen wir auf. Im nordost- bis ostseitig verlaufenden Anstieg kamen wir anfangs rasch voran, nur in oberen Lagen mußte ich bei dünner Luft durch den Schnee spuren. Vom Gipfel eröffnete sich uns ein grandioses Panorama auf das Altiplano, sowie auf Parinacota, Sajama und viele weitere Andengipfel. Wir blieben eine Stunde, ließen uns die ausgiebige Gipfelbrotzeit schmecken und verschossen unzählige Fotos. Pünktlich am frühen Nachmittag erwartete uns der Mulitreiber am Zeltplatz, und wohlbehalten erreichten wir am selben Tag unsere Unterkunft im Dorf. Tags darauf ging's wieder zurück ins chilenische Putre, das wir wegen ausgefallener LKW-Motorbremse nur im Schneckentempo und in nervlicher Anspannung erreichten. Zur Reisehalbzeit legten wir dort einen erholsamen Waschtag ein.
19.-25. April: Ojos del Salado, 6893 m
Anschließend fuhren wir mit dem Bus 1500 km Richtung Süden nach Copiapo. Unser ehrgeiziges Ziel war eine Besteigung des Ojos del Salado, auf Deutsch die "Schneeaugen der Salzwüste", der höchste Vulkan der Welt und der zweithöchste Berg Amerikas. Im geliehenen Pickup führte uns eine ungeteerte Straße 270 km weit zur Hosteria Murray, einer unbesetzten Grenzstation auf 4500 m Höhe. Von dort fuhren wir tags darauf in Richtung des Berges weiter, bis unser Auto in der mehligen Vulkanasche versandete. Selbst stundenlanges Ausbuddeln und Anschieben brachte uns nicht weiter, so daß wir auf Schusters Rappen zum 5200 m "Refugio Universidad de Atacama" wandern mußten. Die nächste Tagesetappe brachte uns zur "Refugio Tejos y Murray" auf stolze 5750 m Meereshöhe. Nach einer kalten und unruhigen Nacht gingen wir am nächsten Morgen vor Sonnenaufgang los. Bis auf das kleine Dauerfirnfeld und den Krater war der Berg zu unserer Verwunderung absolut schneefrei. Trotzdem blieb mir der Aufstieg wegen des permanenten, eiskalten Windes in unangenehmer Erinnerung. Nach guten sechs Stunden stand ich am schneegefüllten Krater knapp 200 m unter dem höchsten Punkt. Selbst Essen und Fotografieren wurden in der dünnen Luft zu anstrengenden Tätigkeiten. Nach einer längeren Pause ging ich alleine weiter. Nach immer steiler und felsiger werdendem Anstieg kündete das marode Fixseil den nahen Gipfel an. Der Sturm toste hier oben wie im Windkanal einer Autofabrik - ich zweifelte angesichts dieser Verhältnisse am Gipfelerfolg. Durch die Gipfelscharte erhaschte ich einen kurzen Blick auf die argentinische Seite, doch ich brauchte beide Hände, um mich festzuhalten, und hatte nicht einmal Gelegenheit, ein Foto zu machen. Etwa 25 Meter (vielleicht fünf Minuten) unter dem Gipfel beschloß ich umzukehren, da ich Angst hatte, vom ausgesetzten Gipfelgrat heruntergeweht zu werden. Erst wieder unterhalb der Scharte genoß ich die Aussicht auf den tieferliegenden Krater und die umliegende, trockene Landschaft. Zusammen mit Martin, der es zwischenzeitlich bis zum Krater geschafft hatte, stieg ich am selben Tag bis zur unteren Hütte ab. Am nächsten Morgen wurden wir draußen von einer verschneiten Winterlandschaft überrascht. Vermutlich waren wir somit die letzten, denen eine Ojos-Besteigung in dieser Saison glückte. Zwei Tage lang versuchten wir dann an der unbesetzten Hosteria Murray, den während der Rückfahrt gerissenen Keilriemen zu reparieren, bevor wir nach Copiapo weiterfahren konnten.
28./29. April: Licancabur, 5916 m
Ein weitere Busreise brachte uns ins malerische Oasendorf San Pedro inmitten der Atacama-Wüste. Martin war von der Devise "essen, schlafen, faulenzen" nicht mehr abzubringen, doch mich reizte der Anblick der nebeneinander aufgereihten Vulkane. Nachdem der Transport zum aktiven Vulkan Lascar zu teuer war, fiel meine Wahl auf den Licancabur, einen wunderschönen und unvergletscherten Vulkankegel. Schon am nächsten Tag fuhr ich auf die bolivianische Seite zu einer 4400 m hoch gelegenen Hütte an der Laguna Verde. Da von dort ein Fahrzeug täglich um 12 Uhr nach San Pedro zurückfährt und mir nur zwei Tage für eine Bergbesteigung zur Verfügung standen, hatte ich zwei Möglichkeiten: Entweder am nächsten Morgen ultra-früh loszumarschieren oder den Berg als Nachmittagstour zu probieren. Daß probieren über studieren ging, bestätigte sich kurz vor Sonnenuntergang, als ich den Gipfel erreichte und auf den Kratersee herabblicken konnte. Das viel tiefer liegende Altiplano wurde zuerst in ein gelbliches, später in ein rötliches Licht getaucht. Als am Nachbar-Vulkan Juriques der Schatten des Licancabur aufstieg, war das stimmungsvolle Naturschauspiel perfekt. Bei einsetzender Dämmerung fand ich dank Vollmond und Stirnlampe meinen Weg zurück zur Hütte, wo mich das Wirtsehepaar begrüßte, als wäre es ganz normal, gegen 22 Uhr vom Berg zurückzukehren. Natürlich konnte ich am nächsten Morgen königlich ausschlafen.
Zurück in San Pedro machten Martin und ich einen Ausflug zu den Tatio-Geysiren, wo wir uns auf etwa 4300 m Höhe ein heißes Bad genehmigten. Abends stiegen wir in den Bus, der uns 23 Stunden später und 1700 km südlicher in Santiago absetzte. Ein ungewohntes Gefühl war es schon, nach fast fünfwöchigem Aufenthalt in dünn besiedelten oder gar menschenleeren Regionen in einer Großstadt zu weilen. Am folgenden Morgen brachte uns das Flugzeug zurück in europäische Gefilde.
3. Mai: Madrid
In Madrid verabschiedete ich mich von Martin, der ein paar Tage bleiben und Bekannte besuchen wollte. Ich nutzte den Zwischenaufenthalt für einen ausgiebigen Stadtrundgang und freute mich, daß mein in Chile gelerntes Spanisch immer noch bestens ankam. Am Abend wurde ich am Münchner Flughafen von kräftigem, bayerischem Regen begrüßt. Im RVO-Bus vom Holzkirchener Bahnhof hinaus in die Tölzer Straße bestaunte man mich noch wie einen Außerirdischen, doch dank Badewanne, Rasierapparat und Waschmaschine konnte ich mich wieder erfolgreich in die deutsche Zivilisation eingliedern.